Die Ostpreußen aus dem letzten Kapitel waren 1945 bereits seit Jahrhunderten Teil Preußens und später Deutschlands gewesen. Diesen Menschen wäre es nicht in den Sinn gekommen, sich selbst als etwas anderes als Deutsche zu bezeichnen. Die Menschen, um die es in diesem Kapitel geht, hatten 1945 schon mehrere Staatswechsel hinter sich. Innerhalb von 30 Jahren waren sie österreichische, tschechoslowakische und dann deutsche Staatsbürger gewesen und all diese Zeit das geblieben, als was sie sich selbst sahen: Sudetendeutsche. Doch auch diese so an politischen Wandel gewohnten Menschen sollten mit Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat endgültig verlieren.
4.5 Die Vertreibung aus dem Sudetenland
Die Sudetendeutschen
In Böhmen und Mähren waren Deutsche seit Jahrhunderten zuhause. Als nach dem Ersten Weltkrieg die österreichisch-ungarische Monarchie zerbrach, wurde aus Böhmen und Mähren (und weiteren Gebieten) der neu gegründete Tschechoslowakische Staat. Für die Tschechen und Slowaken erfüllte sich damit der langgehegte Traum nationaler Eigenständigkeit. Die etwa 3,5 Millionen Deutschen, die plötzlich von österreichischen zu tschechoslowakischen Staatsbürgern wurden, waren weniger begeistert. Im alten Österreichischen Reich waren sie als Deutsche privilegiert behandelt worden. Ihre Sprache war dieselbe wie die des Kaiserhauses. Das änderte sich nun. Tschechisch wurde Amtssprache, den Deutschen wurden ihre alten Rechte und Privilegien gestrichen. Die Sudetendeutschen und die neue nationale Regierung in Prag standen sich von Anfang an misstrauisch gegenüber.
Deutsche Bevölkerung in der Tschechoslowakei | Einwohnerzahl 1939 |
---|---|
Tschechoslowakei gesamt | 3.544.000 |
Sudetendeutsche Gebiete | 3.012.000 |
Übriges Böhmen und Mähren | 259.000 |
Westliches Teschener Schlesien | 67.000 |
Hultschiner Ländchen | 52.000 |
Slowakei | 130.000 |
Karpato-Ukraine | 24.000 |
Heim ins Reich
Seit 1933 gewann die nationalsozialistische Bewegung unter den Sudetendeutschen immer größeren Einfluss. Die Sudetendeutschen forderten in enger Absprache mit Hitler den Anschluss des Sudetenlandes an Deutschland. Sie stellten der tschechoslowakischen Regierung immer unerfüllbarere Forderungen, um Hitler einen Vorwand für den Einmarsch zu liefern. „Die letzte territoriale Forderung, die ich Europa zu stellen habe, ist die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete von der Tschechoslowake“, forderte Hitler noch am 26. September 1938 in einer Rede im Berliner Sportpalast. Mit einer „Heim ins Reich“-Kampagne hatte die Sudetendeutsche Partei schon vierzehn Tage nach dem Anschluss Österreichs die 3,25 Millionen Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei mobilisiert.
Hitler ließ nichts unversucht, die Spannungen zu steigern. Daran änderte auch der Vermittlungsversuch des englischen Premierministers Chamberlain nichts. Um einen Krieg zu vermeiden, stimmten Großbritannien und Frankreich dann ohne Beteiligung der Prager Regierung im „Münchener Abkommen“ vom 29. September 1938 dann der Abtretung des sudetendeutschen Gebietes an Deutschland zu. Am 1. Oktober 1938 wurde das Sudetenland dem Deutschen Reich angegliedert. Entgegen Hitlers Versicherung, nach dem „Anschluss“ des Sudetenlandes keine Gebietsansprüche mehr zu haben, überfielen am 15. März 1939 deutsche Truppen die Tschechoslowakei.
Aufgabe
Bilder aus Eger und Brünn
- Vergleiche die beiden Fotos aus Eger und Brünn oben. Achte dabei besonders auf die Reaktionen der Zuschauer.
- Erkläre die Unterschiede in den Reaktionen. Beachte dabei, dass Eger im Sudetenland liegt, Brünn nicht.
Heim ins Reich
Rache an den "Verrätern"
Die Deutschen machten die Tschechoslowakei zum "Reichsprotektorat Böhmen und Mähren". Die Tschechen und Slowaken hatten unter der deutschen Besatzung schwer zu leiden, Oppositionelle wurden verhaftet, Männer zum Kriegsdienst oder zur Zwangsarbeit im Deutschen Reich eingezogen. Widerstandsaktionen wurden von den Deutschen mit Massakern an der Zivilbevölkerung beantwortet.
Als die Tschechoslowakei 1945 von den Alliierten befreit wurde und die tschechische Regierung aus dem Exil zurückkehren konnte, war für viele Tschechen die Zeit für Vergeltung an allen Deutschen gekommen. Sie rächten sich an den Sudetendeutschen, indem sie diese enteigneten, drangsalierten und schließlich vertrieben. Zum größten Teil Frauen, Kinder, Kriegskrüppel und alte Leute mussten die aufgestaute Wut über sich ergehen lassen.
Alle Deutschen in der Tschechoslowakei mussten sich registrieren lassen und eine weiße Armbinde mit dem Buchstaben "N" (für Nemec – Deutscher) tragen. „Heim ins Reich!“ hatten sich 1938 viele Sudetendeutsche gewünscht. Das bekamen sie nun nicht selten – sarkastisch – von tschechischer Seite nachgerufen. Der Ablauf der Ausweisungen und Vertreibung war demütigend. Die Vertriebenen wurden zu Fuß oder eingepfercht in Vieh- und Güterwagen abtransportiert und aus dem Land geworfen.
Quelle
Ausweisungsbescheid der Tschechen an die deutschen Bewohner.
Quelle
Ausweisungsbescheid der Tschechen an die deutschen Bewohner.
Sie haben sich am _ _ _ _ _ _ um _ _ _ Uhr mit allen Ihren Familienmitgliedern, welche für den Abtransport bestimmt sind, auf der Sammelstelle in Ihrer Gemeinde einzufinden. Sie und jedes Familienmitglied hat mitzunehmen:
2 Decken, 4 Wäschegarnituren, 2 gute Arbeitsanzüge, 2 Paar gute Arbeitsschuhe, einen guten Arbeitsmantel (Winterrock), Esschüssel, Esstopf- und Essbesteck, 2 Handtücher und Seife, Nähbedarf (Nadel und Zwirn), Lebensmittelkarten und die amtlichen Personalpapiere, etwas Lebensmittel, alles zusammen in einem Gesamtgewicht von 50 kg pro Person. Weiteres können Sie pro Kopf _ _ _ _ RM mitnehmen. Weiteres haben Sie dreifach ein genaues Verzeichnis Ihrer Wohnungseinrichtung, welche nach Ihrem Abgang in der Wohnung verbleibt, aufzustellen. Alle Schmucksachen, Bargeld in fremder Währung und alle Sparkassenbücher liefern Sie mit einem besonderen Verzeichnis persönlich ab. Ebenso die Haus- und Wohnungsschlüssel, welche mit einem Pappschildchen mit Name und Adresse versehen, legen Sie in einen Briefumschlag. Nachdrücklich werden Sie aufmerksam gemacht, daß aus Ihrem Besitz nichts verkauft, verschenkt, verborgt oder aufgewendet werden darf. Die Nichtbefolgung obiger Aufforderung wird streng bestraft !
Aufgabe
Ein Leben einpacken
- Handelt es sich bei diesen Vorgängen um eine Flucht oder eine Vertreibung? Begründe deine Antwort.
- Lies dir die Liste im Quellenkasten oben durch. Das war alles, was die betroffenen Menschen mitnehmen durften. Stell dir vor, du wärst in derselben Situation, müsstest deine Heimat verlassen und dürftest nichts, was nicht auf der Liste steht, mitnehmen. Schreibe drei Dinge auf, die für dich am schmerzhaftesten zurückzulassen wären.
- "Weiteres haben Sie dreifach ein genaues Verzeichnis Ihrer Wohnungseinrichtung, welche nach Ihrem Abgang in der Wohnung verbleibt, aufzustellen. Alle Schmucksachen, Bargeld in fremder Währung und alle Sparkassenbücher liefern Sie mit einem besonderen Verzeichnis persönlich ab." Weshalb sollten die Deutschen solche Verzeichnisse anlegen? Vermute.
Heimat als Spurensuche
Alte Fotos, Briefe, Urkunden, Alltagsgegenstände und Dokumente öffnen ein Fenster in unsere Vergangenheit. Oft schlummern diese Erinnerungsstücke verstaubt, versteckt oder vergessen in Koffern, Schubladen, Ordnern und Kisten. Sie spiegeln Hoffnungen und Ängste, Freud und Leid wieder. Sie ermöglichen die Entstehung von Biografien, Familiengeschichten und den Austausch zwischen den Generationen. Objekte können traumatische ebenso wie glorreiche Vergangenheiten aufleben lassen.
Familiengeschichte trifft Zeitgeschichte - Verlust von Heimat
Hinweis: Die folgenden Texte sind aus der persönlichen Perspektive von Jürgen Heller, dem Autor dieses Kapitels, geschrieben.
Unter den 3 Millionen Sudetendeutschen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten, waren tausende Kinder. Darunter auch meine beiden Brüder Manfred (8) und Burkhard (5), sowie meine Mutter Katharina (37) und meine Großmutter Johanna (70). Mein Vater Rudolf befand sich zu dieser Zeit in amerikanischer Kriegsgefangenschaft bei Neapel/Italien und eine Rückkehr ins Sudetenland war verboten und damit ausgeschlossen. Somit sind drei Generationen gezwungen, ihre Heimat Tetschen-Bodenbach im Sudetenland zu verlassen. Meine Eltern sind nie zurückgekehrt.
Galerie: Familie Heller bei der Vertreibung
Als meine Familie im Juni 1946 ihren Heimatort Tetschen-Bodenbach (heute Decin) verlassen musste, um mit dem Zug in Richtung bayrische Grenze aufzubrechen, durfte nur das Nötigste mitgenommen werden. Außer etwas Kochgeschirr waren dies ein Teddybär und ein paar Fotos, versteckt in einem Bratpfannenstil, die zur Erinnerung geblieben sind. Ein alter Holzkoffer und ein paar Prisoner-Of-War-Briefe auf dem Dachboden erinnern an die amerikanische Kriegsgefangenschaft meines Vaters. Zum Glück gibt es aber noch diese Dokumente, die die Flucht aus Tetschen-Bodenbach fast lückenlos belegen.
Darstellung
Fluchterfahrungen
Darstellung
Fluchterfahrungen
Alte Heimat Tetschen-Bodenbach/Sudetenland
Die militärische Lage war hier bei Kriegsende sehr unübersichtlich. Immer wieder wurde Fliegeralarm ausgelöst. Zur gleichen Zeit setzten tschechische und deutsche Widerstandskämpfer gemeinsam in Tetschen-Bodenbach die NS-Führung ab und übernahmen die Leitung der Stadt. Unter den Antifaschisten waren sowohl Tschechen als auch deutsche Kommunisten und Sozialdemokraten. Im Bezirk Tetschen-Bodenbach lebten Anfang Mai 1945 etwa 122.000 Einwohner, davon waren etwa 120.000 deutscher Nationalität. Die ersten Tschechen, die nach Mai 1945 hierher kamen, wollten von den deutschen Antifaschisten überhaupt nichts wissen. Sie waren radikaler gegen die Deutschen eingestellt als diejenigen Tschechen, die ihr ganzes Leben mit Deutschen friedlich in den Grenzgebieten gelebt hatten. Dazu gehörte auch unsere Familie, die mindestens in vier Generationen hier zuhause war.
Fluchterfahrungen meiner Brüder
Ganz in der Nähe unserer Wohnung befand sich auf einer Wiese ein Russenlager mit Planwagen, Pferden und einer Feldküche. Die Russen hatten die ortsansässige Schokoladenfabrik Riegerhansi geplündert. Weil wir die Pferde mit Wasser versorgten, erhielten wir von den russischen Soldaten als Belohnung Schokolade. Einer meiner Brüder kann sich noch sehr gut daran erinnern, dass vier Tschechen mit Maschinengewehren unser Haus betraten. Wir sollten das Haus innerhalb von 15 Minuten verlassen. Eilig steckten wir unseren geliebten Teddybär in einen Rucksack. Währendessen durchsuchte eine tschechische Frau unsere Kleiderschränke, um zu sehen, was sie sofort oder später mitnehmen kann. Ein guter tschechischer Freund unserer Familie war uns wohlgesonnen und begleitete uns zum Bahnhof, wo wir einen Zug besteigen mussten, der uns zur Grenze bringen sollte. Bei anderer Gelegenheit hatte dieser Tscheche uns bei einer Hausdurchsuchung im Keller versteckt und die Tür mit einem Baumstamm verriegelt. Bei der übereilten Flucht hatte Manfred seinen Lieblings-Nussknacker im Haus vergessen. Er durfte ihn nicht mehr holen, das Haus war bereits verschlossen.
Dokumente der Flucht und Vertreibung
Anhand der Dokumente kann man den Verlauf der Flucht vom Bahnhof Tetschen-Bodenbach bis Hessen gut verfolgen. Zunächst ging es mit dem Transportzug ins „Durchgangslager“ Wiesau in der Oberpfalz. Dort fand eine Entlausung statt. Von dort ging es zur bayrischen Grenze nach Schierding. Erstes „Auffanglager“ in Hessen war Dieburg/bei Darmstadt. Am Ende der Fluchtroute stand das kleine Bauerndorf Langenstein/Kr. Marburg in Mittelhessen. Unsere erste neue Heimat.
Quelle
Neue Heimat Hessen
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Neue Heimat Hessen
Wir wurden von einer Bauernfamilie aufgenommen und wohnten beengt in einem ehemaligen Schulgebäude. Darin wohnte auch eine Lehrerin, die uns Flüchtlingen nicht wohlgesonnen war. Unser Vater war noch in Kriegsgefangenschaft und meine Mutter musste der Bauernfamilie auf dem Feld helfen. Mein Bruder und ich mussten die Eier auf dem Bauernhofgelände einsammeln. Im Wald sammelten wir Heidelbeeren und Pilze. Als unser Vater - nach einer Suchanfrage beim Roten Kreuz in Genf - nach Langenstein kam, verkaufte er von Tür zu Tür Bleistifte, Schulhefte und Radiergummis. Es war seine erste Arbeit nach der Gefangenschaft. Danach arbeitete er bei einem jüdischen Verlag in Marburg an der Lahn. Im Oktober 1947 kamen unsere Zwillingsbrüder Jürgen und Hans zur Welt. Viele Jahre später haben unsere Eltern nur ganz selten über Krieg, Shoa und Vertreibung gesprochen. Wenn überhaupt, dann war die Flucht und die Erinnerung an das Sudetenland das alleinige Thema. Unsere erste Schallplatte hatte dazu den passenden Titel: "Das Lied der Flüchtlinge" von Hans Albers aus dem Jahre 1947. Meine Eltern sind nie in das Sudetenland zurückgekehrt.
Aufgabe
- Verfolgt die Fluchtroute von Tetschen-Bodenbach (heute Decin) nach Langenstein/Kr. Marburg auf einer Karte.
- Versetze dich in die Rolle eines Flüchtlings. Du hast 15 Minuten Zeit, deine Sachen zu packen. Welche Gegenstände und Dokumente nimmst du mit auf die Flucht? Tauscht eure Ergebnisse aus.
- Ein deutscher Flüchtling kehrt nach über 60 Jahren in seine frühere Wohnung/Haus zurück. Dort wohnt eine tschechische Familie. Schreibt auf, welches Gespräch entstehen könnte.