Was ist dir wichtig, damit du dich geboren und irgendwo zu Hause fühlst? Deine Familie um dich haben? Regelmäßig deine Freunde sehen? TikTok-Videos sehen? In den Sport- oder Musikverein gehen?
Ich denke, das all das wichtig ist und dass man sich nicht schon dann wohlfühlt, wenn man eine Wohnung hat, zur Schule geht oder einen Arbeitsplatz hat. Den Flüchtlingen und Vertriebenen ist das nach dem Zweiten Weltkrieg ähnlich gegangen, glaube ich. Und wie sie sich dann eingelebt haben und was wir daraus mitnehmen können, erfährst du in diesem Kapitel.
5.4 Kirche, Vereine, Verbände, politisches Engagement – gesellschaftliche Integrationsmotoren
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Wie entstanden Flüchtlingsverwaltungen und Vertriebenenorganisationen?
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Wie entstanden Flüchtlingsverwaltungen und Vertriebenenorganisationen?
Die Kirchen und freien Wohlfahrtsverbände waren die einzigen Institutionen, die in einer organisatorischen und personellen Kontinuität über den Zusammenbruch vom Mai 1945 hinweg funktionsfähig blieben und die früheren Hilfsmaßnahmen aus den Kriegstagen weiterführten, bevor staatliche Stellen dies übernahmen. [...] Zunächst betrieben also die freien Wohlfahrtsverbände den Flüchtlingsdienst, während parallel dazu die Flüchtlingsverwaltung entstand. Demgegenüber legten aber die Kirchen mit ihren Hilfskomitees den Grundstein für eine erste Selbstorganisation der Flüchtlinge nach landsmannschaftlichen Kriterien.
1. Flüchtlingshilfskomitees – Selbsthilfe der Flüchtlinge und Vertriebenen
Die amerikanische Militärregierung erlaubte am 5. März 1947 die Bildung von unpolitischen Flüchtlingsorganisationen. Das war zuvor offiziell nicht möglich gewesen, weil ein grundsätzliches Vereinigungsverbot bestand. Das bedeutet, dass sich Menschen nicht zu irgendwelchen Zwecken zu Verbänden oder Vereinen zusammenschließen durften.
Bis dahin hatten sich trotz Verbot schon viele Flüchtlinge zu Hilfsdiensten, Komitees, Notgemeinschaften und örtlichen Aktionsgruppen zusammengeschlossen.
2. Religion gibt Halt
Sich um die Ankommenden kümmmern
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) gründete im Sommer 1945 ein Hilfswerk, dass sich um die Flüchtlinge kümmern sollte. Es ging dabei um "Seelsorge" und "Leibsorge". Kirchliche Hilfskomitees waren dann nach Herkunftsgebieten der Heimatvetriebenen organisiert. So gab es beispielsweise eine "Hilfskomitee der Evangelischen Deutschen aus Ostpreußen" oder ein "Hilfskomitee für die Deutschen Evangelischen aus Ungarn". Die katholische Kirche rief die "Caritas-Vertriebenen und Flüchtlingshilfe" ins Leben.
Konfessionelle Mischungen in den Orten und Kreisen
Oftmals kamen mehrheitlich Menschen katholischer Konfession in mehrheitlich evangelische Gegenden und umgekehrt. Das stellte eine besondere Herausforderung dar, weil die Flüchtlinge und Vertriebenen dann entweder noch eher von den Einheimischen abgelehnt wurden oder selbst Schwierigkeiten hatten, sich diesen zu nähern.
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Mischung der Konfessionen am Beispiel des Kreises Groß-Gerau
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Mischung der Konfessionen am Beispiel des Kreises Groß-Gerau
- 76% der Bevölkerung im Kreis Groß-Gerau waren am Ende des Zweiten Weltkriegs evangelisch; 18% katholisch. Dennoch gab es in einigen Gemeinden eine katholische Bevölkerungsmehrheit, zum Beispiel in Gernsheim und Haßloch.
- Die Mehrheit der hinzukommenden Heimatvertriebenen war katholisch, nämlich 76%. Durch ihre großflächige Zuteilung erhöhten sie in den Gemeinden mit katholischen Minderheiten den Anteil der Katholiken. So war es etwa in den Gemeinden Bauschheim, Biebesheim oder Stockstadt. Dies konnte zu Konflikten zwischen katholischen und evangelischen Gruppen führen.
- Katholiken, die in mehrheitlich evangelische Orte kamen, stellten dort meistens kein größeres Problem dar, weil sie dort nicht als Bedrohung der Mehrheitsverhältnisse empfunden wurden.
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"Brüderlichkeit" zwischen Katholiken und Protestanten und neue Gemeinden
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"Brüderlichkeit" zwischen Katholiken und Protestanten und neue Gemeinden
- Im konkreten religiösen Zusammenleben standen sich die Menschen dann doch oftmals bei. So wurden zum Beispiel katholische Messen in evangelischen Kirche gefeiert.
- Im ganzen Bistum Mainz, zu dem die Gemeinden des Kreises Groß-Gerau gehörten, gab es mehr als 180.000 katholische Heimatvertriebene. In überwiegend evangelischen Gebieten begann man daher, schnell religiöse Anlaufstellen zu schaffen. Es wurden kleinere Lokalseelsorgebezirke geschaffen. Sogenannte Lokalkapläne kümmerten sich um die Menschen. Von solchen Anlaufstellen gab es 39 im Jahr 1947 und 1951 schon 46. Viele Lokalkapläne stammten aus dem Sudetenland oder Schlesien oder waren Ordensgeistliche gewesen.
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Bau neuer Kirchen
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Bau neuer Kirchen
Zwischen Ende des Zweiten Weltkrieg und dem Beginn der 1980er Jahre wurden für Heimatvertriebene im Bistum Mainz 149 neue Gotteshäuser errichtet.
Kirchliches Leben
Neben den Gottesdiensten entwickelte sich auch ein vielfältiges Gemeindeleben. Viele Heimatvertriebene nahmen beispielsweise an sogenannten Flüchtlingswallfahrten teil. Man konnte dabei seine Verwandten aus anderen Orten oder Bekannte aus der alten Heimat treffen. Lieder aus der Heimat wurden gesungen und Blaskapellen spielten. Viele Menschen zogen etwa nach Maria Einsiedel in der Nähe von Gernsheim. Sie beteten gemeinsam und hielten festliche Gottesdienste. Das schuf eine neues Zusammengehörigkeitsgefühl und gab Geborgenheit. Der Flüchtlingsseelsorger Reiß aus Offenbach sagte 1951 zu den Versammelten Wallfahrern: "Wir Flüchtlinge haben ein Lebensrecht im Westen, aber ein Heimatrecht im Osten."
3. "Flüchtlinge", "Rucksackdeutsche", "Kartoffelkäfer"? – Flüchtlinge und Heimatvertriebene werden Teil der Gesellschaft
Der Umgang mit Flüchtlingen und Vertriebenen hatte mehrere Phasen:
- Oftmals wurden die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen, als sie nach Hessen kamen, von den Einheimischen abgelehnt und als zusätzlich Belastung empfunden.
- Schon in den 1950er Jahren waren sie jedoch überwiegend als Teil der Gesellschaft akzeptiert. Nun waren sie Vereinsmitglieder, Angestellte in den Verwaltungen, Lehrer an Schulen, Musiker in Orchestern usw. Nun wurden auch Straßen und Plätze nach Orten, Landschaften oder Flüssen in den ehemaligen deutschen Gebieten im Osten benannt.
- Mit der Entspannungspolitik der 19709er Jahre erschienen die Vertriebenen und gerade auch ihre Interessenvertretungen in der Öffentlichkeit manchmal als Hindernisse auf dem Weg zu einem Ausgleich zwischen Ost und West.
- In der Gegenwart treten viele Nachgeborene dafür ein, die Erinnerung wachzuhalten, helfen Flüchtlingen der Gegenwart und setzen sich weiter für Austausch, Kulturarbeit und eine bleibende Versöhnung zwischen den Ländern Osteuropas und Deutschland ein.
Aufgabe
- Die Karte unten zeigt einen südlichen Ausschnitt des Stadtplans von Frankfurt am Main. In diesem Ausschnitt befinden sich sieben Straßen, die nach Städten den früheren deutschen Ostgebieten benannt sind. Suche sie und klicke sie an.
- Recherchiere selbstständig, in welchem Land die Städte heute liegen und welchen Namen sie mittlerweile haben.
4. Kulturelles Leben
Die Bewahrung und Pflege der ostdeutschen Kultur war von Anfang an ein wichtiges Anliegen der Heimatvertriebenen selbst. Es wurde politisch unterstützt und finanziell gefördert, zum Beispiel durch das Bundesvertriebenengesetz. Dieses Gesetz wurde 1953 beschlossen und es verlangte vom Bund und von den Ländern, Projekte und Einrichtungen zu fördern, die sich etwa mit der Musik und den Liedern, mit Literatur und Geschichte der Verteibungsgebiete beschäftigen und sie lebendig zu halten. Mit dem Geld wurden u.a. Musikgruppen, Chöre, Ausstellungen ("Heimatstuben") und Sammlungen finanziert.
In Hessen gab es seit dem Schuljahr 1981/82 einen Schülerwettbewerb zum Thema "Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn", der junge Leute an die Geschichte der Ostgebiete heranführte. Damit war zugleich das Bemühen um eine Verständigung mit den Ländern des östlichen Europa verbunden.
"Heimatstuben"– handfeste Museen des alltäglichen Lebens
In Heimatstuben wurde gesammelt, was die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge bei ihrer Flucht an Haushalts- und Arbeitsgeräten, Kleidung, Transportmitteln (Handwagen, Kinderwagen, Fahrrädern usw.), Musikinstrumenten, Büchern und Kunstgegenständen mitgebracht hatten oder was auf anderem Wege nach Hessen gekommen war. Diese Ausstellungen gaben einen direkten Einblick in das ehemalige Leben der Menschen aus den Ostgebieten.
In Gernsheim wurde, wie in vielen anderen hessischen Orten, eine Heimatsammlung eingerichtet. Initiator war der damalige Vorsitzende der BdV-Ortsgruppe, Dr. Johann Hauke. Im Jahr 1981 wurde die Sammlung dem Stadtmuseum angegliedert. Sie ging 2003 in die Trägerschaft der Stadt Gernsheim über. Zu sehen sind etwa Teile einer Geigenbauerwerkstatt und Hauswirtschaftsgeräte. In der Sammlung befinden sich auch Tagebücher eines Vertriebenen aus den Jahren 1947 bis 1950, der nach der Flucht in Gernsheim untergebracht war.
Die Sammlung kann man heute in 360-Grad-Aufnahmen sehen:
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Ostdeutsche Heimatstuben in Hessen in 360 Grad
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Ostdeutsche Heimatstuben in Hessen in 360 Grad
Weilburg, Nauheim, Schaafheim, Langgöns, Heppenheim, Stadtallendorf ... – weitere Heimatstuben sind hier zu sehen. Dieses Projekt wird von der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen realisiert und durch das Ministerium des Inneren und für Sport des Landes Hessen gefördert.
5. "Hesse ist, wer Hesse sein will" – Der Hessentag auch als Tag der Vertriebenen
Wie wir bereits beschrieben haben, hatte Hessen in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ein ziemlich durchmischte Bevölkerung. Zunächst war das Bundesland selbst aus mehreren Teilen zusammengebaut und dann nahmen die Vertriebenen einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung ein. Es war also Anfang der 60er Jahre gar nicht so leicht zu sagen, was eigentlich ein Hesse oder eine Hessin war. Der damalige Ministerpräsident Georg-August Zinn löste dieses Problem mit der schlicht-eleganten Formulierung "Hesse ist, wer Hesse sein will". Und um erlebbar zu machen, wer nun alles als Hesse in diesem Land lebte, richtete er den alljährlichen Hessentag ein, ein Landesfest, auf dem die verschiedenen Teile der hessischen Bevölkerung sich bei kulturellen Veranstaltungen vorstellen und kennenlernen sollten.
Die hessischen Vertriebenen waren von Beginn an integraler Bestandteil dieses Festes, ihre Trachten und ihr Brauchtum sollten hier genauso gezeigt werden, wie 'alteingesessene' hessische Bräuche.
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Ein Fernsehbeitrag zum 2. Hessentag 1962
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Ein Fernsehbeitrag zum 2. Hessentag 1962
Über diesen Link findest du einen Fernsehbeitrag des hessischen Rundfunk zum 2. Hessentag 1962. Bei Minute 0:30 sind Schlesische Trachtenträger im Umzug zu sehen.
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Ministerpräsident Bouffier über den Hessentag und die Vertriebenen
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Ministerpräsident Bouffier über den Hessentag und die Vertriebenen
Der damalige hessische Ministerpräsident in einer Rede zum 60. Jubiläum des Hessentags 2021:
Vor 60 Jahren war unser Land noch sehr jung und das Landesfest sollte die emotionale Bindung der Einheimischen, der Heimatvertrieben und der Geflüchteten zu unserem Land stärken. Sie sollten hier ankommen und sich wohlfühlen. Der Hessentag sollte ein großes Fest der Hessinnen und Hessen werden. Und das ist er. Bis heute. Ein Fest von Bürgerinnen und Bürger für Bürgerinnen und Bürger. Der Hessentag ist vom ersten Tag an ein großer Erfolg gewesen und immer noch ein Besuchermagnet.
Galerie: Brauchtumspflege auf dem Hessentag
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Weitere hessische Besonderheiten
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Weitere hessische Besonderheiten
Neben dem Hessentag gibt es noch weitere Einrichtungen des Landes Hessen, die sich insbesondere mit Vertriebene und ihre Themen befassen:
- den Landesvertriebenenbeirat
- den Unterausschuss für Heimatvertriebene, Aussiedler, Flüchtlinge und Wiedergutmachung (UHW) des hessischen Landtags
- den Landesbeauftragte/r für Heimatvertriebene und Spätaussiedler
- und den Asylkonvent des hessischen Landtags
6. Politisches Engagement – Mitmachen schafft Anerkennung und gestaltet das eigene Leben mit
GB/BHE – die "Vertriebenenpartei"
Die vielen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge waren Bürger und damit auch Wähler. Sie waren also von Anfang an in ihren neuen Lebensumgebungen auch eine politische Größe. Zum Aufbau eines neuen persönlichen und gesellschaftlichen Lebens gehörte also auch das Mitmachen in der Politik. Und die Heimatvertrieben und Flüchtlinge hatten ja auch ihre eigenen politischen Interessen: zum Beispiel Unterstützungen für den Neuanfang, Entschädigungszahlungen, Einbeziehung in Berufsleben, Kulturleben, Sport und Freizeit. Dies führte bald zur Gründung einer 'Vertriebenenpartei': der "Gesamtdeutsche Block (GB) / Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE)" versuchte, die Interessen zu bündeln und trat bei Wahlen für den Bundestag, aber auch für den hessischen Landtag an.
Aufgabe
Wahlplakat und Forderung der GB/BHE
- Betrachte dieses Wahlplakat der GB/BHE aus dem Jahr 1957.
- Recherchiere auch in vorherigen Kapiteln zu den Herkunftsgebieten vieler Heimatvertriebener.
- Interpretiere den Slogan "Das ganze Deutschland soll es sein".
Beteiligung der GB/BHE an den Landtagswahlen in Hessen und an Bundestagswahlen
Jahr | Anteil an den Stimmen | Sitze im Landtag |
---|---|---|
1950 | 31,8 % (Listenverbindung mit der FDP) | 21 |
1954 | 7,7 % | 7 |
1958 | 7,4 % | 7 |
Jahr | Zahl der erhaltenen Stimmen | Stimmenanteil | Abgeordnetensitze im Bundestag |
---|---|---|---|
1953 | 1.616.953 | 5,9 % | 27 |
1957 | 1.374.066 | 4,6 % | keine (5%-Hürde nicht erreicht.) |
Aufgabe
Wer vertrat die politischen Interessen der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen in der ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland?
- Untersuche die Entwicklung der Wahlergebnisse in den Tabellen (Elemente 22 und 23).
- Recherchiere nach dem Verhältnis der Flüchtlinge und Vertriebenen zu den anderen Parteien (vor allem CDU, SPD und FDP).
- Beurteile inwieweit die GB/BHE als Interessenvertretung der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen bezeichnet werden kann.