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5.3 Schadensausgleich, Neubeginn, Gründungen – wirtschaftliche Integrationsmotoren

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Neubeginn mit altem Handwerk

5.3 Schadensausgleich, Neubeginn, Gründungen – wirtschaftliche Integrationsmotoren

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Ein Neuanfang – das klingt irgendwie immer hoffnungsvoll und aufregend. Für die vielen Hunderttausend Vertriebenen, die nach Kriegsende nach Hessen geschickt wurden, war es aber alles andere als das. Ihr altes Leben war zerstört, ihre alte Heimat für sie verloren und sie kamen in ein Land, das mit genug eigenen Problemen zu kämpfen hatte. Dass dennoch für die meisten dieser Menschen hier ein Neuanfang gelang, ist alles andere als selbstverständlich. Es war das Ergebnis von harter Arbeit und politischen Entscheidungen.

1. Wirtschaft: Neuanfang mit "Vernunft und Herz"

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Die Hunderttausenden Flüchtlinge und Heimatvertriebene brauchten nach Ende des Krieges und der Flucht eine wirtschaftliche Perspektive. Sie hatten zumeist ihr gesamtes Eigentum, ihre Ersparnisse, Immobilien, Konten und Ansprüche aus Versorgungskassen verloren. Und sie waren auf der Suche nach Arbeit, denn mit der Heimat waren natürlich auch alle früheren Ausbildungs-, Arbeits- und Karrieremöglichkeiten verloren gegangen. Hessen stand dabei vor besonderen Herausforderungen, weil infolge von Umverteilungen zwischen den deutschen Ländern immer mehr Flüchtlingen und Vertriebene nach Hessen kamen. Am 1. Oktober 1952 stammten bereits 17,3 % der hessischen Bevölkerung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, insgesamt 763.100 Personen.

Finanzhilfen über die Hessische Treuhandverwaltungsgesellschaft

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Der hessische Staat bemühte sich daher zum Beispiel, eine Neugründung von Firmen zu unterstützen und die eingetretenen Vermögensverluste auszugleichen.
Mit der Hessischen Treuhandverwaltungs Gesellschaft (HTV) wurde eine Institution geschaffen, die

  • staatliche Bürgschaften für Kredite gewährte,
  • unmittelbare Staatskredite vergab,
  • Gelder aus dem Europäischen Recovery Programm (ERP) sowie verschiedener anderer Soforthilfeprogramme verteilte.

U.a. Handwerker, Ladenbesitzer, Fabrikanten und Händler konnten damit, obwohl sie nichts mehr hatten, neue Betriebe aufbauen, Maschinen kaufen, Mieten bezahlen usw. Gegenüber Banken wurden sie kreditwürdig. Die Idee war: Ersatz des Eigenkapitals durch Staatsbürgschaften. Bis 1962 wurden Bürgschaften in Höhe von 98.4 Mio. DM sowie unmittelbare Staatskredite von 37,2 Mio. DM an Vertriebene und Flüchtlinge vergeben. Mehr als 2.800 Unternehmen wurden mit diesem Geld gefördert. Bis zum Beginn der 1960er Jahre entstanden damit etwa 80.000 Arbeitsplätze.

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Darstellung: Wieviel Unterstützung haben Flüchtlinge und Vertriebene bekommen und ging es dabei gerecht zu?

Vergleich zwischen Einheimischen und Flüchtlingen/Vertriebenen

Um den Vergleich zu vereinfachen, gehe ich lediglich von der Gesamtsumme der staatlichen und staatsverbürgten Kredite aus. Sie betrug zum 31.12.1962 in 8454 Fällen rd. 538,1 Mio. DM. Hiervon hatte die Vertriebenenwirtschaft in rd. 3/4 aller Fälle betragsgemäß etwa ein Viertel erhalten. das entspricht etwa genau dem Bevölkerungsanteil der Vertriebenen und Flüchtlinge  an der Gesamtbevölkerung des Landes Hessen. Ein anderes Bild ergibt sich aber, wenn dem der Anteil der vertriebenen und Flüchtlings-Unternehmer an den vorhandenen Industrie- und Handwerksbetrieben gegenübergestellt wird. Vertriebene und Flüchtlinge besitzen zusammen etwa 12,1% der Industrie- und Handwerksbetriebe im Land Hessen, während im Vertreibungsgebiet der Anteil der in Industrie und Handwerk Selbstständigen rd. 13 v. H. betrug. 

Gottfried Boley, Die Hessische Treuhandverwaltung G.m.b.H. im Dienste der wirtschaftlichen Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge, in: 15 Jahre VHB/IOB in Hessen, hg. von der Vertretung der Heimatvertriebenen Wirtschaft, LV Hessen e.V., Baden-Baden [1963], S. 11-25, hier S. 19.

Lastenausgleich

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Urheber: Wolf1949

https://de.wikipedia.org/wiki/Lastenausgleichsgesetz#/media/Datei:Fragebogen_zur_Ermittlung_des_Lastenausgleiches_.jpg

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Fragebogen für einen Antrag auf Zahlungen aus dem Lastenausgleich

Das Lastenausgleichsgesetz der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 1952 organisierte eine der größten Solidarleistungen der deutschen Geschichte. Es stellte viel Geld zur Verfügung, auch um die Integration der Flüchtlinge und  Vertriebenen zu unterstützen. Bis Ende 1962 wurden in Hessen 546.817 Anträge von Heimatvertriebenen zur Unterstützung gestellt. Insgesamt wurden bis zu diesem Zeitpunkt fast 426 Mio. DM an Vertriebene und Flüchtlinge im Land Hessen ausgezahlt. In die Förderung der wirtschaftlichen Unternehmungen von Vertriebenen flossen davon fast 72 Mio. DM. Menschen im höheren Lebensalter, die sich keine neue Existenz mehr schaffen konnten, wurden mit Barzahlungen von mehr als 200 Mio. DM entschädigt. 

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Aufgabe

  1. Beschreibe in eigenen Worten die Aufgabe und Funktionsweise der Hessischen Treuhandverwaltungs Gesellschaft.
  2. "Hilfe zur Selbsthilfe" Erkläre dieses politische Prinzip anhand der Vertriebenenunterstützung in Hessen.


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Zahlungen durch den Lastenausgleich an Flüchtlinge und Vertriebene

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Berufsgruppen geförderte Unternehmen
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Stand: 31.12.1962; zusammengestellt aus: Puhalla, Die Heimatvertriebenen und der Lastenausgleich in Hessen, in: 5 Jahre VHB/IOB in Hessen, hg. von der Vertretung der Heimatvertriebenen Wirtschaft, LV Hessen e.V., Baden-Baden [1963], S. 26-31, hier S. 27.

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Stand: 31.12.1962; zusammengestellt aus: Puhalla, Die Heimatvertriebenen und der Lastenausgleich in Hessen, in: 5 Jahre VHB/IOB in Hessen, hg. von der Vertretung der Heimatvertriebenen Wirtschaft, LV Hessen e.V., Baden-Baden [1963], S. 26-31, hier S. 27.

Berufsgruppen geförderte Unternehmen
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Merkkasten

Was war das Lastenausgleichsgesetz?

Im Jahr 1952 beschloss der Bundestag das sogenannte Lastenausgleichsgesetz (LAG). Es besagte, dass Deutsche, die durch den Zweiten Weltkrieg Vermögen verloren oder andere Schäden erlitten hatten, eine finanzielle Entschädigung bekommen konnten. Neben Menschen, die durch Kriegseinwirkungen (Zerstörungen durch Kämpfe am Boden, Bombardements aus der Luft usw.) Schäden erlitten hatten, betraf das auch Vertriebene und Flüchtlinge, erst nach langer Zeit zurückgekehrte Gefangene (Spätheimkehrer) und Menschen, die aus der DDR in die Bundesrepublik übersiedelten.

Entschädigungen und Darlehen gab es etwa für verlorene Häuser, Grundstücke und Fabrikanlagen, für verlorenen Hausrat, für den Bau eines neuen Hauses, für den Verlust von Sparguthaben und Lebensversicherungen.

Finanziert wurden diese Unterstützung durch eine Steuer auf das Vermögen von Menschen, die auch nach dem Krieg noch etwas hatten. Auch Gewinne, die aufgrund der Währungsreform in den drei Westzonen seit 1948 entstanden waren, wurden mit einer Abgabe belegt.

Marcus Ventzke, Digitale Lernwelten GmbH

Der "Hessenplan"

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Urheber: Friedrich Magnussen

https://de.wikipedia.org/wiki/Wenzel_Jaksch#/media/Datei:3._Nordmarktreffen_der_Sudetendeutschen_und_15-Jahr-Feier_des_Verbandes_der_Heimatvertriebenen_(cropped).jpg

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Der rechts im Bild stehende Wenzel Jaksch (1896-1966) war ganz entscheidend an der Aufstellung des Hessenplans beteiligt. Jaksch stammte aus dem Sudetenland, war vor dem Krieg Sozialdemokrat in der Tschechoslowakei, nach dem Krieg im hessischen Landesflüchtlingsamt tätig und später Präsident des Bundes des Vertriebenen.

Der Hessenplan wurde unter dem Hessischen Ministerpräsidenten Georg-August Zinn zu Beginn der 1950er Jahre aufgestellt und sollte vor allem auf die wirtschaftlichen, sozialen und infrastrukturellen Probleme Hessens nach dem Zweiten Weltkrieg eine Antwort geben. Dies betraf in erheblichem Maße auch die Vertriebenen und Flüchtlinge.

Der Plan formulierte mehrere Kernpunkte, u.a. die Ansiedlung von 100.000 Menschen in Orten, in denen Arbeitsplätze zur Verfügung standen oder geschaffen werden konnten, den Bau von 25.000 Wohnungen, die Bereitstellung von etwa 3.000 Siedlerstellen auf dem Land und die Schaffung von 25.000 neuen Arbeitsplätzen in Industrie und Gewerbe.

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Darstellung

Notwendigkeit des Hessenplans: Bekämpfung des "Notstands"

Der Hessenplan war infolgedessen zur Abwehr einer sozialen Explosionsgefahr erforderlich. Er entstand aus der Notwendigkeit , neben der Bundesumsiedlung eine Landesumsiedlung durchzuführen und diese Maßnahmen mit einer intensiven wirtschaftlichen Förderung  des gesamten nordhessischen Notstandsgebietes zu verbinden. In Hessen besteht eine echtes wirtschaftliches Ausgleichsbedürfnis zwischen den südlichen und nördlichen Landesteilen.

Der Hessenplan 1950-1954: Ausgangspunkt, Entwicklungsstufen, Teilergebnisse, Beurteilungen. Bericht des Landesamtes für Vertriebene, Flüchtlinge und Evakuierte in Zusammenarbeit mit dem Landesplanungsamt, Landesarbeitsamt und Statistischen Landesamt, 1954,  , S. 12.

2. Firmengründungen und gewerbliche Wirtschaft

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Viele Heimatvertriebene versuchten nach ihrer Ankunft, schnell Arbeit zu finden, damit sie Geld verdienen konnten, um sich und ihre Familien selbst ernähren zu können. Das war schwierig und oft mussten sie schwere Arbeiten annehmen, die zudem noch schlecht bezahlt wurden. Daher schlossen sich viele zusammen und gründeten (gemeinschaftlich) Firmen, um wieder eine eigene Existenz zu begründen.

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KRISTALL GUTH - GLASFEINSCHLEIFEREI AUS DEM SUDETENLAND
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Unternehmen und wirtschaftlicher Sachverstand kommen aus den ehemaligen deutschen Gebieten im Osten nach Hessen: Beispiel Glasindustrie
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http://HHStAW,+503/131a

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http://HHStAW,+503/131a

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http://HHStAW,+503/133b

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heute: Export in alle Länder der Welt, Betrieb von Weltgeltung
Informationen über den Betrieb Julius Keilwerth gibt es hier.

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Urheber: Digitale Lernwelten GmbH

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Urheber: Digitale Lernwelten GmbH

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Urheber: Digitale Lernwelten GmbH

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Urheber: Digitale Lernwelten GmbH

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Urheber: Digitale Lernwelten GmbH

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Glasschleiferei Glasindustrie Buchbinderei Schmuckherstellung
KRISTALL GUTH - GLASFEINSCHLEIFEREI AUS DEM SUDETENLAND
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GRAUE TÜCHER - VON DER SCHMUGGELWARE ZUR GROßEN GLASINDUSTRIE
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DIE LETZTEN IHRER ART - BUCHBINDER GEBRÜDER SORAJEWSKI
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FRANZ STUMPE - Glanzvoller Schmuck aus Gablonzer Gürtlerei in Oberursel
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Glasschleiferei Glasindustrie Buchbinderei Schmuckherstellung

3. Landwirtschaft

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Die Eingliederung heimatvertriebener Landwirte in Hessen war eine Herausforderung, weil die landschaftlichen Gegebenheiten sehr oft nur eine kleinteilige Bewirtschaftung zuließen. Gustav Hacker, war zwischen 1955 und 1967 hessischer Minister für Landwirtschaft und Forsten und selbst ein vertriebener Sudetendeutscher, bemühte sich dennoch intensiv um Strukturverbesserungen und Flurbereinigungen in der Landwirtschaft und die Schaffung Bauernstellen. Insgesamt kamen etwa 45.000 Landwirte aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten nach Hessen. Ihre Ansiedlung auf Höfen war durchaus erfolgreich.  
Oftmals wurden aber auch sehr kleine Flächen für Landwirtschaft im Nebenerwerb bereitgestellt. Im Kreis Groß-Gerau konnten das 1000 m2, später 800 msein. Ausschüsse der Vertriebenen selbst halfen bei der Verteilung und Einrichtung der Siedlungsstellen. Allein im Kreis Groß-Gerau waren bis Februar 1961 85 Vollbauern- und 300 Nebenerwerbsstellen geschaffen worden.

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Quelle

Ministerpräsident Georg August Zinn in einer Regierungserklärung über die heimatvertriebenen Landwirte in Hessen (1955)

Für den nachgeborenen Bauernsohn oder den Flüchtlingsbauern bleibt die Vollbauernstelle  die Idealform der bäuerlichen Siedlung. Die landwirtschaftliche Nebenerwerbsstelle bietet keinen vollgültigen Ersatz. Dennoch wird sie in Zukunft neben der landwirtschaftlichen Kleinsiedlung, der Landarbeitersiedlung und dem Landarbietereigenheimbau Hauptbestandteil eines jeden modernen Siedlungsprogrammes sein. In Hessen sind Flüchtlingsbauern [...] mit beachtlichem Erfolg auf auslaufenden und sogenannten wüsten Höfen angesetzt worden. Das wird fortgesetzt.

Zit. nach: Marion Frantzioch, Die Vertriebenen. Hemnisse, Antriebskräfte und Wege ihrer Integration in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1987, S. 217.

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Quelle

Der heimatvertriebene Siedler Walter Wendt über seine Sicht auf die neue landwirtschaftliche Nebenerwerbsstelle in einer Siedlung in der Nähe von Rüsselsheim

Ich glaube, es kann am treffendsten mit den Worten Freude, Dankbarkeit und neue Hoffnung ausgedrückt werden. Und zwar Freude darüber, daß nach so langen Jahren des Wartens und Hoffens den heimatvertriebenen Bauern dieser Siedlung endlich eine eigene Heimstatt und eine eigenes Stück Grund und Boden die Möglichkeit gibt, wieder neue Wurzeln schlagen zu können. [...] Neue Hoffnung empfinden wir Siedler, die wir seit Kriegsende in Fremdberufen unser täglich Brot verdienen müssen. Neue Hoffnung in dem Augenblick, wo unser Fuß die Schwelle unseres neuen Heimes betreten wird, von dem wir wissen, daß es unser und unserer Kinder Zuhause ist, in dem wir endlich wieder Herr auf eigenem Grund und Boden sein dürfen.

Zit. nach: Ortrud Becker, Geflüchtet – Vertrieben – Aufgenommen. Dokumentation über die Vertreibung, die Aufnahme, die Eingliederung und das Wirken der Heimatvertriebenen im Kreuis Groß-Gerau, hg. vom Bund der Vertriebenen (BdV), Kreisverband Groß-Gerau, Griesheim 1990, S. 228.

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Aufgabe

  1. Wähle eines der oben aufgeführten Beispiele (Video oder Steckbrief) aus und recherchiere selbstständig Hintergrundinformationen zu dem von dir gewählten Betrieb.
  2. Beschreibe anhand deines Beispiels, wie Vertriebene zur Wirtschaftsentwicklung Hessens beigetragen haben.

4. Lehrer werden!

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Viele Flüchtlinge und Heimatvertriebene waren vor dem Krieg und der Flucht auch in der Ausbildung oder hatten studiert. Viele hatten zum Beispiel Lehrer werden wollen. Das Schulamt des Kreises Groß-Gerau zählte zum Beispiel Anfang 1947 schon 37 sogenannte Flüchtlingslehrer, die im Schuleinsatz waren. Viele waren zunächst "Schulhelfer" und absolvierten dann noch eine Ausbildung an Pädagogischen Instituten. In manchen Gegenden waren schon bis zu einem Viertel der Lehrer Flüchtlinge oder Vertriebene.

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Quelle

Der aus dem Riesengebirge stammende Lehrer Franz Fiedler über seine neue Rolle als Lehrer in Hessen (1947)

Es wirken erzieherisch auf den Menschen Wohnplatz und Klima, die Blumen des Feldes, der grüne Wald, die wogende See, ja die ganze weite und große Natur, alles was den Leib beeinflußt oder den Sinnen vorgeführt wird und die Seelenkräfte anregt und steigert. Die Umwelt übt ihre Wirkung aus nicht nur während der Kindheit, sondern während der ganzen Dauer des Lebens. 

Alle diese Kräfte wirken natürlich auch auf meine persönliche Entwicklung ein. Was war mir die Heimat geworden? Die Menschen, die ein widriges Geschick in die Fremde verschlug, die dort unter fremden Menschen wohnen, dort die fremde Sprache und Sitten kennenlernen und am eigenen Körper die Sehnsucht nach der Heimat verspüren, die ihnen immer unersetzlich bleibt, können am besten diese Frage beantworten. [...]

Deutlich erinnere ich mich an die Spielplätze meiner Jugend, und in Gedanken durcheile ich die Berge und Täler des böhmischen Riesengebirges, und Sehnsucht erfaßt mich und ich möchte hineilen [...].

Wie oft und wie recht empfinde ich es heute, daß nur im Haus die Wurzeln des Lebens liegen, daß hier die Grundlagen gelegt werden für unser Denken, Fühlen udn Streben. Unser alter Baurenhoif war die wichtigste Stätte für meine Erziehung. [...] Hier, wo mich liebende Menschen in großer Zahl umgaben, hier wo ich Beweise der Liebe in großer Zahl empfing, hier wurde mein Gemüt zu Vertrauen und Liebe gegen die Mitmenschen, zu dankbarer Anhänglichkeit und zu wahrer Frömmigkeit geweckt. Die Erziehung zum Fleiß, zur Sparsamkeit und zum Ertragen gewisser Härten und Widerwärtigkeiten [...] machte sich in meinen späteren Leben [...] vorteilhaft bemerkbar. [...]

Die Heimat als Erziehungserlebnis ist mithin etwas, was in jedem Menschen klar und deutlich empfunden werden müsste, allerdings auch seine Schranken nicht überschreiten darf, wenn der Heimatgedanke nicht zu einer großen Gefahr werden, wenn er nicht das Gefühl für die alles umfassende Menschheit in uns ersticken soll.

ZIt. nach: Ortrud Becker, Geflüchtet – Vertrieben – Aufgenommen. Dokumentation über die Vertreibung, die Aufnahme, die Eingliederung und das Wirken der Heimatvertriebenen im Kreuis Groß-Gerau, hg. vom Bund der Vertriebenen (BdV), Kreisverband Groß-Gerau, Griesheim 1990, S. 206-209.

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Aufgabe

Was ist Heimat?

1. Arbeite die Quelle oben (Element 22) durch.

2. Erstelle aus den genannten Faktoren, die nach Meinung des Autors Heimat ausmachen, ein Mindmap.

5. "Bald haben sie's geschafft" – heimatvertriebene Neubürger bauen Häuser

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Urheber: Bundesarchiv, B 145 Bild-P000405 / CC-BY-SA 3.0

https://de.wikipedia.org/wiki/Hessenplan#/media/Datei:Bundesarchiv_B_145_Bild-P000405,_Niederseelbach-Taunus,_Barackenunterkunft.jpg

Cc3BYSA

Unterkunft für Flüchtlinge in Niederseelbach/Taunus (1950)

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Urheber: Bundesarchiv, B 145 Bild-F000102-0008

https://de.wikipedia.org/wiki/Hessenplan#/media/Datei:Bundesarchiv_B_145_Bild-F000102-0008,_Bleidenstadt-Taunus,_Siedlung_f%C3%BCr_Fl%C3%BCchtlinge.jpg

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Durch den Hessenplan geförderter Wohnungsneubau für Heimatvertriebene in Bleidenstadt/Taunus (1952)

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§ PD

Neben fehlender Arbeit war der fehlende Wohnraum das drängendste Problem der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen. Um dieses Problem zu beheben, spielte deren eigenes Engagement eine große Rolle. Viele traten beispielsweise Baugenossenschaften für Heimatvertriebene bei. In diesen Genossenschaften erschloss man gemeinsam Bauplätze und half sich gegenseitig beim Bau. 

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Quelle: Frauen aus Flüchtlingsfamilien erinnern sich an neue Wohnsiedlungen und ihre neuen Häuser

Bsp.: Frau Thomas, die mit einem kleinen Sohn aus Nordmähren nach Oberhessen gekommen war über die Siedlung am Heilsberg in Bad Vilbel

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© Diakonisches Werk der EKD Berlin

http://Diakonisches+Werk+der+EKD+Berlin

Arrc

Heimatvertrieben packen beim Siedlungsbau auf dem Heilsberg selbst mit an.

Hier war noch ganz wenig fertig. Die Straßen waren noch nicht gemacht. Da lagen auf den Wegen, von den Amerikanern, die hatten für ihre Panzer solche Lochbleche, da ging man drüber. [...] Es ist alles hier nur Matsch gewesen. Und das Haus, wo wir eingezogen sind, mein Mann, der ist dann oft weggefahren zu Versammlungen am Abend, dienstlich, und an dem Haus war noch keine Haustür dran. Nur an dem einen Zimmer war eine Tür. In das eine Zimmer hab en wir unser ganzes Zeug reingetan, weil in den anderen Zimmern auch noch keine Fußböden drin waren. Und weil ich nicht konnte zuschließen die Tür, habe ich immer einen Tisch und Stühle vor die Tür geschoben. Ich hatte doch Angst, man war doch ganz fremd hier [...]. 

Hier war damals eine kleine evangelische Kirche. Das kleine Kirchlein, das haben sie leider, leider jetzt angerissen haben. Das war für mich ein Zufluchtsort. [...] Da war ich auch zwei Jahre im evangelischen Kirchenchor, und auch Frau Freudenberg. Sie kam jeden einzeln begrüßen, der hierherzog. Ich habe gesagt: 'Ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist, wir sind katholisch.' Da hat sie gesagt: 'Das ist schön, daß Sie das sagen. Wir wollen nämlich Freunde sein.' [...] Anfangs hat man ziemlich gut zusammengehalten. Der eine hat mal Sand wo entdeckt und hat gesagt: 'Dahinten ist Sand für euren Weg.' Und dann ist auf der Straße immer gegrüßt worden. Frau Freudenberg wollte das, das hat sie auch gleich beim ersten Besuch gesagt, sie wünscht, daß jeder jeden grüßt. Und dann hat sich ein Gespräch ergeben: 'Ja, wo kommen Sie denn her [...].'

Utta Müller-Handl, "Die Gedanken laufen oft zurück [...]" Flüchtlingsfrauen erinnern sich an ihr Leben in Böhmen und Mähren und an den Neuanfang in Hessen nach 1945 (= Forschungen zur Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in Hessen nach 1945, hg. von der Historischen Kommission für Nassau, Bd. 3), Wiesbaden 1993, S. 158-160.

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§

Urheber: Ortrud Becker, Geflüchtet – Vertrieben – Aufgenommen. Dokumentation über die Vertreibung, die Aufnahme, die Eingliederung und das Wirken der Heimatvertriebenen im Kreis Groß-Gerau, hg. v. Bund der Vertriebenen, Kreisverband Groß-Gerau, Griesheim 1990, S. 194.

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"'Heimat'-Häuser" – Zeitungsbericht über den Hausbau von Vertriebenen in Biebesheim

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© Diakonisches Werk der EKD Berlin

Arrc

Siedlung Heilsberg (Bad Vilbel), 1950

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Aufgabe

Wohnen und so weiter: Auswertung der Quelle 19

  1. Fasse die Wohnsituation in der neuen Siedlung zusammen.
  2. Warum war den Siedlern das Hausbauprojekt so wichtig?
  3. Siedlungsbauprojekte führten dazu, dass die Vertriebenen sich in der neuen Umgebung langsam wieder heimisch fühlten. Finde Gründe in der Quelle für dieses Heimischwerden. Gehe dabei vor allem auf die erwähnte Kirche und die Rolle von Frau Freudenberg ein.
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Aufgabe

eigenes Haus + Erinnerung an die eigene Erziehung + Kontakt mit Menschen = Heimat?

  1. Erläutere die Bedeutung eines eigenen Hauses für die Entwicklung eines Heimatgefühls bei den Flüchtlingen und Vertriebenen.
  2. Diskutiere mit Partnern die Frage, ob die Gleichung "eigenes Haus + Erinnerung an die eigene Erziehung + Kontakt mit Menschen = Heimat?" wirklich stimmt? Nimm dabei Bezug auf die Quellen (Elemente 16 und 22)
  • Reicht das aus?
  • Was könnte aus deiner Sicht fehlen?

Zusammenfassung: Schadensausgleich, Neubeginn, Gründungen

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