Die deutsche Politik in der Nachkriegszeit war vor allem von dem Versuch geprägt, die Beziehungen zu den Nachbarn zu normalisieren und sich schrittweise in eine europäische Völkerfamilie zu integrieren. Bei kaum einem Nachbarn waren die Herausforderungen dafür so groß, wie bei dem Land Polen. Denn es gab durch den brutalen Vernichtungskrieg der Wehrmacht, die Vertreibungen von Polen und Deutschen sowie lange Zeit nicht umfassend anerkannten Grenzverläufen so viele Verletzungen und Streitpunkte. Dass wir heute eine normale, ja oft freundschaftliche Beziehung zu unseren polnischen Nachbarn haben ist also nicht selbstverständlich, sondern Ergebnis jahrzehntelanger Bemühungen von beiden Seiten.
7.1 Der ehemals deutsche Osten in einem offenen Europa
1. Deutschland und Polen – der Weg zur Versöhnung
Eine neue Generation, vor allem Nachkommen von Vertriebenen, beginnt sich für die historischen Orte in einem offenen Europa zu interessieren. Sie machen sich auf die Spurensuche zu den Kindheitsorten ihrer Eltern und Großeltern. Dabei rückt vor allem Polen in den Mittelpunkt der Betrachtung, weil in dem Land die Themenkomplexe wie Krieg, Flucht und Vertreibung, Versöhnung, Verständigung, Minderheiten in einem offenen Europa besonders gut zu erkunden sind.
Stellungnahme
Pflege des kulturellen Erbes der Deutschen im Osten - Verpflichtung der deutschen Politik
Stellungnahme
Pflege des kulturellen Erbes der Deutschen im Osten - Verpflichtung der deutschen Politik
Das Zusammenleben verschiedener Völker und Nationen hat über Jahrhunderte die Kulturlandschaften im östlichen Europa geprägt. Großen Anteil daran hatten auch die Deutschen, die seit dem Hochmittelalter aus ganz unterschiedlichen Gebieten nach Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen, nach Böhmen, Mähren und Siebenbürgen sowie ins Baltikum zuwanderten. Dort hinterließen sie zahlreiche Zeugnisse ihres Wirkens.
Bund und Länder haben sich im Bundesvertriebenengesetz (§ 96 BVFG) verpflichtet, das kulturelle Erbe der Deutschen im östlichen Europa auf Dauer zu erforschen, zu vermitteln und zu bewahren. Seitens des Bundes nimmt die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien diesen Auftrag wahr.
Dabei fördert sie wissenschaftliche Forschungsvorhaben, museale Präsentationen und bibliothekarische Einrichtungen. Außerdem unterstützt sie Angebote der kulturellen Bildung und Breitenarbeit sowie grenzüberschreitende Kooperationen.
Aufgabe
- Fasse den Inhalt des Films "Eine kurze Geschichte der Deutschen in Polen" zusammen.
- Warum gibt es überhaupt eine deutsche Minderheit in Polen?
- Wie sieht das Leben der deutschen Minderheit in Polen heute aus?
- Beschreibe an einem Beispiel, wie politische Entwicklungen in der Nachkriegszeit das Leben der Deutschen in Polen beeinflussten.
2. Politische und Rechtliche Grundlagen der Aussöhnung
Im November 1965 hatten polnische Bischöfe in einem Hirtenbrief an ihre deutschen Amtsbrüder wegen der Vertreibung der deutschen Bevölkerung um Vergebung gebeten. Eine Reaktion aus Deutschland hierauf war die „Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands", mit der die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als endgültige Westgrenze Polens als Existenzfrage für Polen akzeptiert wurde.
Der Kniefall von Warschau des Bundeskanzlers Willy Brandt im Jahre 1970 in Gedenken an die Kämpfer des Aufstandes im Warschauer Ghetto, war eine spontane Geste des Bundeskanzlers. In der polnischen Öffentlichkeit fand diese Geste besondere Aufmerksamkeit, da Brandt diesen Schritt stellvertretend für das deutsche Volk vollzog.
Ein weiterer Meilenstein dieser Aussöhnung ist insbesondere der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag aus
dem Jahre 1991. Der Vertrag bildet bis heute die Grundlage für die Beziehung zwischen den beiden Staaten. Vorausgegangen war der deutsch-polnische Grenzvertrag. Am 1.Januar 1993 wurde das Deutsch-Polnische Jugendwerk gegründet, dessen
Idee sich direkt auf das deutsch-französische Vorbild bezog. Ebenfalls im Jahr 1991 wurde das Weimarer Dreieck – ein Gesprächsforum zwischen Deutschland, Frankreich und Polen ins Leben gerufen. Infolge des Nachbarschaftsvertrages kam es zu verschiedenen politische und kulturelle Einrichtungen, wie das Poleninstitut in Darmstadt und die Stiftung für deutsch- polnische Zusammenarbeit in Berlin und Warschau.
Aufgabe
Ein Vertrag ist zunächst einmal nur beschriebenes Papier. Auch der deutsch-polnische Freundschaftsvertrag war zunächst nur eine politische Willensbekundung. Um die deutsch-polnische Freundschaft wirksam zu befördern, musste er von Menschen mit Leben erfüllt werden. Nenne zwei Beispiele aus dem Film, in denen zivilgesellschaftliches und zwischenmenschliches Engagement den Vertrag "mit Leben erfüllt" haben.
3. Es sind ja noch Deutsche da! Minderheiten in Osteuropa
Zahlreiche Deutsche verblieben nach dem Krieg in Osteuropa. Manche wurden als Arbeitskräfte gebraucht und mussten bleiben, andere wurden verschleppt. Viele Oberschlesier wurden beispielsweise vom polnischen Nachkriegsstaat als Polen angesehen und durften bleiben, selbst wenn sie sich vor und während des Krieges als Deutsche verstanden hatten. Von den Rumäniendeutschen wurden von Januar 1945 bis Dezember 1949 zwischen 70.000 und 80.000 Menschen auf Grundlage ethnischer Kriterien in die Sowjetunion verschleppt. Dort leisteten sie Zwangsarbeiten als Reparation für die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs; überwiegend in Bergwerken und Schwerindustriebetrieben in der Ukraine, aber auch im Kaukasus. Viele Rumäniendeutsche konnten aber weiter als anerkannte Minderheit in ihren Herkunftsgebieten leben.
Die letzten noch lebenden Verbliebene bilden heute zusammen mit ihren Nachkommen die deutsche Minderheit in Tschechien. Ein großer Teil der deutschen Minderheit in Tschechien lebt noch immer in den Grenzgebieten im Westen des Landes. Dort sind die Spuren der einstigen deutschen Bewohner bis heute sichtbar: Auf Friedhöfen tragen die meisten Grabsteine deutsche Inschriften. In Kirchen stehen deutsche Sätze auf Wänden und Statuen.
Die größte verbleibende deutsche Minderheit in Osteuropa waren aber die Russlanddeutschen, die zum großen Teil während des Krieges nicht nach Westen vertrieben, sondern zur Zwangsarbeit nach Sibirien oder Kasachstan verbannt worden sind. Nach dem Ende der Vertreibungen um 1948 blieben fast alle hinter dem "Eisernen Vorhang" zurück. Diese Beispiele zeigen, wie vielfältig die Geschichte der Deutschen im östlichen Europa verlaufen ist.
Deutsche Minderheiten in Osteuropa | Gesamtzahl |
---|---|
Russische Förderation | 390.000 |
Kasachstan | 180.000 |
Belarus | 20.000 |
Rumänien | 40.000 |
Ungarn | 180.000 |
Tschechien | 20.000 |
Ukraine | 33.000 |
Bulgarien | 500 |
Polen | 150.000 |
Galerie: Zweisprachig in Osteuropa - Beispiele aus Rumänien, Polen, Ungarn und Tschechien
Quelle
Die deutsche Minderheit in Polen
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Die deutsche Minderheit in Polen
Rechtliche Stellung
Im sozialistischen Polen wurden in den Jahrzehnten zwischen Ende des Zweiten Weltkrieges und der demokratischen Wende im Jahr 1989 die deutsche Minderheit, die größtenteils aus Überbleibseln der früheren deutschen Mehrheitsbevölkerung in den ehemaligen deutschen Ostgebieten besteht, massiv diskriminiert. Die Nutzung der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit war lange in ganz Polen verboten, in den Woiwodschaften Schlesien, Oppeln und Ermland-Masuren war sogar ihre Lehre bis zur Wende untersagt. Deutsche Inschriften, deutsche Bücher, Grabsteine und Denkmäler wurden zerstört, deutsche Orts- und Personennamen polonisiert. Die deutsche Minderheit wurde de facto unsichtbar gemacht.
Ein Umdenken erwuchs zuerst aus der demokratischen Arbeiterbewegung: am 7. Oktober 1981 wurde auf der Hauptversammlung der Delegierten der Freien Gewerkschaft Solidarnośc ein Beschluss gefasst. In diesem hieß es: „Indem wir die Entwicklung der polnischen Kultur pflegen, die offen für das Werk anderer Völker ist, wollen wir dazu beitragen, dass in Polen lebende Bürger anderer Völker und ethnischer Gruppen — Weißrussen, Roma, Griechen, Litauer, Lemken, Deutsche, Ukrainer, Tataren, Juden und andere Nationalitäten – im gemeinsamen Vaterland mit den Polen Möglichkeiten finden, ihre Kultur frei zu entwickeln und sie den nächsten Generationen zu übermitteln”. Es sollte jedoch noch zehn Jahre dauern, bis im deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag von 1991 die Rechte der deutschen Minderheit von der Republik Polen erstmals anerkannt wurden. Wieder zehn Jahre später, am 1. April 2001, ratifizierte Polen das Europäische Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten. Dessen konkrete Umsetzung in nationales Recht bildet wiederum das Minderheitengesetz von 2005.
Quelle
Artikel 20 - Aus dem "Vertrag für die Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit" vom 17. Juni 1991:
Quelle
Artikel 20 - Aus dem "Vertrag für die Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit" vom 17. Juni 1991:
Artikel 20
(1) Die Angehörigen der deutschen Minderheit in der Republik Polen, das heißt Personen polnischer Staatsangehörigkeit, die deutscher Abstammung sind oder die sich zur deutschen Sprache, Kultur oder Tradition bekennen sowie Personen deutscher Staatsangehörigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, die polnischer Abstammung sind oder die sich zur polnischen Sprache, Kultur oder Tradition bekennen, haben das Recht, einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen Mitgliedern ihrer Gruppe ihre ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität frei zum Ausdruck zu bringen, zu bewahren und weiterzuentwickeln; frei von jeglichen Versuchen, gegen ihren Willen assimiliert zu werden.
4. Möglichkeiten heute: Rentner, Touristen, Jugendaustausch, Arbeitsmigration, Hauskauf...
Spätestens mit der EU-Osterweiterung 2004 sind die Grenzen zwischen Deutschland, Polen und Tschechien dauerhaft leicht überschreitbar geworden. Das wird von vielen Deutschen mittlerweile regelmäßig genutzt. Urlaub, Austausch, Umzug, Arbeitswechsel, Grundstückskauf, Hausbau – all das ist für Deutsche mittlerweile in den früheren Ostgebieten und den übrigen Landesteile ziemlich leicht möglich. Deutschland hat so seine früheren Ostgebiete nicht 'zurückbekommen', aber im Zuge der europäischen Einigung stehen sie jedem Deutschen (ob durch Familien- und Vertreibungsgeschichte mit ihnen verbunden, oder nicht) wieder weit offen.
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Heimweh nach Heimat
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Heimweh nach Heimat
Heimweh nach Heimat
Auf meiner Spurensuche im Osten Europas würde ich gern, wie im Roman von Paul Mercier, einen Nachtzug besteigen, nicht nach Lissabon, sondern nach Prag. In Prag würde ich mich auf Spurensuche nach meinem alten Studienfreund und Briefpartner Milan Riha aus der Sokolovska 108 begeben. Milan hatte ich als Schüler auf meiner ersten Studienreise nach Prag 1965 kennengelernt. Er hatte mich auf den jüdischen Friedhof von Prag, nach Theresienstadt, Lidice und ins legendäre „laterna magika“ (Theater) begleitet. 25 Jahre später bin ich als Lehrer mit meiner Klasse noch einmal nach Prag gekommen. Die Schülerinnen und Schüler hatten sich nicht für Paris und nicht für London, sondern bewusst für Prag entschieden. Es war eine Zeit des politischen Umbruchs und daher besonders spannend, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Neben den touristischen Sehenswürdigkeiten Prags wurde der jüdische Friedhof, auf dem sich das Grab von Franz Kafka befindet, besichtigt. Auch der Besuch des Ghettos und des Konzentrationslagers Theresienstadt standen auf dem Programm.
Von Prag aus würde ich meine Reise nach Tetschen-Bodenbach/ Děčín fortsetzen, in die alte Heimat meiner Eltern, Großeltern und Brüder. In Děčín (Tetschen-Bodenbach) angekommen, würde ich mich auf den Weg zum Wohnhaus meiner Eltern und Großeltern machen, in die ehemalige Scharnhorststraße 5, wo die Flucht und Vertreibung meiner Familie begann (vgl. Kapitel Flucht aus dem Sudetenland).
Auf meiner Reise wäre ich nicht, so wie die Flüchtlinge heute und Ende des Zweiten Krieges, Tage und Wochen unterwegs. Ich hoffe, dass es ganz ohne Grenzkontrollen geht, weil politische Grenzen in einem vereinten Europa keine Bedeutung mehr haben sollten. Ich hoffe auf Begegnungen mit Menschen über Grenzen und Generationen hinweg. In einem offenen Europa ohne Grenzen können wir uns an mehreren Heimaten erfreuen - sowohl in unseren Köpfen als auch in unseren Herzen.
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Was Hermann Hesse über die verlorene Heimat dachte
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Was Hermann Hesse über die verlorene Heimat dachte
Der Schriftsteller Hermann Hesse hat eine sehr treffende Beschreibung der Sehnsucht nach der Heimat gegeben. Er sagte beispielsweise in einem Brief aus dem Jahr 1960, dass die Heimat und die Orte der Kindheit und Jugend eine besonderen Platz in der Erinnerung eines Menschen haben. Sie werden zu einer Art Paradies, das verloren gegangen ist. Und man kann dieses Paradies nicht wieder betreten, denn alles, was es früher ausgemacht hat, gehört der Vergangenheit an: Orte verändern sich. Häuser werden abgerissen oder zerstört. Die Natur wandelt sich. Die Menschen aus alten Zeiten sind nicht mehr da.
Wenn man diese Orte später wieder aufsucht, so kann man sehr enttäuscht sein, weil alles so anders ist und die Erinnerungen nicht bestätigt werden. Mit diesen Orten der alten Heimat ist es so, wie mit der Erinnerung an die Sichtweisen und Gefühle der Kindheit – auch sie sind unwiderbringlich, sie bleiben aber unser eigener Erinnerungsschatz.
Man muss sich also der neuen Heimat, also der Gegenwart zuwenden, muss sie gestalten und sich die neuen Orte seines Lebens zu seiner Heimat machen.
Reise in den deutschen Osten
- Fasse die Gedanken aus dem Brief von Hermann Hesse (1960) mit eigenen Worten zusammen.
- Haben die Aussagen im Brief noch heute Gültigkeit? Begründe deine Antwort.