In endlosen Flüchtlingstrecks zogen
die Menschen vor allem zwischen 1944 und 1946 nach Westen. Ihre wenigen Habseligkeiten
hatten sie auf Handkarren, Leiterwagen, Schlitten, Pferdewagen
geladen. Es waren vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen. Sie mussten sich fragen: „Was wird aus uns werden?“; „Wo sollen
wir hin?“ Hunderttausende verloren bei Flucht, Vertreibung und
Verschleppung ihr Leben. Hunger, Kälte und Krankheiten begleiteten die
Fliehenden. Die Menschen müssen zurücklassen, was ihr Leben bisher ausgemacht hatte: Haus und Hof, Hab und Gut, Heim und Heimat. Viele Familien wurden auseinandergerissen. Die Flucht
der Deutschen aus den östlichen Regionen des Deutschen Reiches, aus den im Zweiten Weltkrieg von Deutschen eroberten Gebieten sowie aus ihren Siedlungsgebieten in anderen Staaten des östlichen Europa sollte endgültig sein. Es gab für sie keine Möglichkeit der Rückkehr.
4.3 Flucht und Vertreibung aus dem Osten
1. Das Vorrücken der Roten Armee löste eine Massenflucht aus
Die deutschen Truppen hatten sich seit Ende 1942 immer mehr aus der Sowjetunion zurückziehen müssen, und auch dabei schlimme Verbrechen begangen. Das Scheitern der Operation „Barbarossa“ vor Moskau sowie die Niederlage der deutschen 6. Armee in Stalingrad hatte zum Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges an der Ostfront geführt. Ende 1944 standen die sowjetischen Truppen schließlich an den östlichen Grenzen des Deutschen Reiches. Am 12. Januar 1945 startete die Rote Armee ihre Winteroffensive gegen Hitlerdeutschland, die in der Kapitulation endete und in der Vertreibung von mindestens 14 Millionen Deutschen aus ihren Siedlungsgebieten u.a. in Ostpreußen, Pommern und Schlesien. Durch das Vorrücken der Roten Armee ging es den Deutschen u.a. im Sudetenland und auf dem Balkan ähnlich.
Bis Ende 1944 hatte sich der Krieg im Osten jedoch größtenteils außerhalb des Deutschen Reichs abgespielt. Deutsche Zivilisten hatten dort bis zu diesem Zietpunkt keine Kampfhandlungen erlebt. Das änderte sich nun mit dem Heranrücken der Roten Armee. Berichte über das Vorrücken und in vielen Fällen auch die Brutalität sowjetischer Soldaten breiteten sich aus. Diese wurden oft angefacht von der Propaganda der Nationalsozialisten, die damit die Bevölkerung zum bedingungslosen Widerstand motivieren wollten.
Das Vorrücken der Roten Armee auf dem Gebiet des Deutschen Reichs ging mit zahllosen Plünderungen, Vergewaltigungen und Morden einher. Es war auch die Rache für all die Gräueltaten, die die Deutschen in der Sowjetunion angerichtet hatten.
Galerie: Der Krieg im Osten
Darstellung
Die Flucht vor der Roten Armee
Darstellung
Die Flucht vor der Roten Armee
Die Menschen flohen oft
unkontrolliert, in wilder Panik und im letzten Moment. Es blieb ihnen kaum Zeit, an das Nötigste zu denken. Viele warteten bis zum letzten Augenblick, weil die NS-Behörden über
Monate hinweg die Vorbereitungen einer Flucht aus Ostpreußen
schlicht unterdrückt hatten. So verbot beispielsweise der Gauleiter
Ostpreußens, Erich Koch, die Vorbereitung der Evakuierung der
ansässigen Bevölkerung und propagierte noch Anfang 1945
Durchhalteparolen.
Berichte von Gräueltaten der
sowjetischen Armee führten dann aber ab Ende 1944 zu einer gewaltigen Massenflucht
der deutschen Bevölkerung. n schier endlosen Trecks drängten Flüchtlingsströme in den Westen. Schlecht ausgerüstet und ohne ausreichende Nahrung zogen sie quer durchs zerstörte Land.
Die schnell vorrückende Rote Armee
überrollte buchstäblich viele Flüchtlingstrecks, die nicht schnell
genug ausweichen konnten. Es kam auch vor, dass Flüchtlingswagen beschossen wurden. Oft wurde zwischen Soldaten und der Zivilbevölkerung kein
Unterschied mehr gemacht.
14 Millionen Deutsche mussten ab Ende 1944 ihre Heimat verlassen.
Aufgabe
Fluchtumstände
Erkläre anhand der Karten und Darstellungstexte oben, warum die Flucht der Deutschen aus den Ostgebieten
- erst Ende 1944 einsetzte und
- dann innerhalb kurzer Zeit zu einer ungeordneten Massenflucht wurde.
2. Auf der Flucht
Der Winter 1944/45 war besonders hart. Es lag hoher Schnee und die Temperaturen fielen bis auf 25 Grad Celsius unter Null. Die Menschen mussten überstürzt ihre Wohnungen, die Bauernhöfe und Gutshäuser verlassen. Nur das Nötigste verstauten sie auf Karren, Kutschen, Schlitten und Wagen, in Rucksäcken, Koffern und Säcken. Ihr sonstiger Besitz blieb zurück. Die meisten flüchteten auf eigene Faust oder schlossen sich einem Flüchtlingstreck an. Die Menschen flohen zu Fuß, mit Leiterwagen oder Pferdefuhrwerken in das westliche Reichsgebiet. Viele flüchteten auch mit den letzten fahrenden Zügen oder mit Schiffen.
Ständig lebten die Flüchtlinge in Angst, von der Front eingeholt zu werden. Die langen Trecks waren oft Ziel von Fliegerangriffen. Alte Männer und Frauen saßen, kaum geschützt vor dem eisigen Winter, auf den Wagen. Mütter schoben Kinderwägen mit Kleinkindern viele Kilometer weit. Hunger, Krankheiten und Kälte begleiteten die Flüchtlinge auf ihrem oft Hunderte von Kilometern langen Weg nach Westen. Es gab keine medizinische Versorgung, keine Lebensmittel und kaum Trinkwasser. Viele, vor allem Alte, Säuglinge und Kleinkinder, starben in der eisigen Kälte an Unterkühlung oder Hunger.
Galerie: Auf der Flucht
Aufgabe
Flüchten
Vergleiche die Flucht 1944/45 aus den deutschen Ostgebieten mit einer heutigen Fluchtbewegung, z.B. die Flucht der Syrer seit 2011 oder die Flucht der Ukrainer seit 2022. Gehe dabei vor allem auf folgende Fragen ein:
- Was löst die Flucht aus?
- Wer flieht?
- Unter welchen Bedingungen findet die Flucht statt?
Finde Gemeinsamkeiten und Unterschiede.
3. Die Rache der Sieger
Als die Rote Armee im Oktober 1944 in Ostpreußen erstmals deutschen Boden betrat, konnte sie noch einmal zurückgeworfen werden. Doch schon in der kurzen Zeit des ersten russischen Einmarsches kam es bereits zu Übergriffen, Erschießungen von Zivilisten und Vergewaltigungen. Die Nationalsozialisten versuchten, diese Verbrechen propagandistisch zu nutzen. Den Deutschen wurden Geschichten von der unmenschlichen Grausamkeit der Sowjets erzählt, um ihnen klar zu machen, dass sie bis zum Ende kämpfen müssten und sich keinesfalls ergeben dürften.
Auf diese Weise – sowjetische Kriegsverbrechen und propagandistische Steigerung – wurde das Massaker im ostpreußischen Nemmersdorf zu einem Symbol für die Schrecken, die durch das sowjetische Vorrücken über die Deutschen kamen.
Darstellung
Was geschah in Nemmersdorf?
Darstellung
Was geschah in Nemmersdorf?
Der ostpreußische Ort Nemmersdorf wurde im Oktober 1944 von der Roten Armee eingenommen, einige Tage später jedoch von der deutschen Wehrmacht zurückerobert. Die deutschen Soldaten fanden die Leichen von mehreren Zivilisten. Die deutsche Propaganda machte daraus schnell eine Geschichte von sowjetischen 'Bestien', die im Ort gewütet und wahllos Deutsche umgebracht hätten. Auf Fotos ordneten die Deutschen beispielsweise tote Frauen mit hochgezogenen Röcken an, um sie als Vergewaltigungsopfer zeigen (siehe Galerie unten). Die frühe propagandistische Bearbeitung der Ereignisse stellt für die heutige Geschichtswissenschaft eine Herausforderung dar, wenn sie zu klären versucht, was damals wirklich in Nemmersdorf passiert ist. Besagte Frauen können durchaus vergewaltigt worden sein. Fotos, auf denen ihnen nach ihrem Tod die Röcke von deutschen Soldaten hochgezogen wurden, sind dafür aber kein Beleg. Die ersten Zeugenaussagen und Berichte wurden vor NS-Beamten abgegeben, die einen Einfluss darauf hatten, was gesagt und was nicht gesagt wurde.
Es gilt aber als gesichert, dass mindestens 13 Zivilisten, die sich vor den Kämpfen in Sicherheit gebracht hatten, nach Einnahme des Dorfes von sowjetischen Soldaten gezielt durch Kopfschüsse getötet wurden. Einige andere Dorfbewohner und Flüchtlinge wurden wohl während der Eroberung unter nicht restlos klärbaren Umständen getötet. In Nemmersdorf geschah also definitiv ein Kriegsverbrechen sowjetischer Soldaten.
Galerie: Nemmersdorf
4. Die verlorenen Ostgebiete
Schon als Kind liebte ich Landkarten und das Fach Heimatkunde. Ich bin in Westdeutschland aufgewachsen. Stundenlang konnte ich in meinem Schulatlas stöbern, andere Länder erkunden - und mich über mein Heimatland Deutschland wundern. Da war jenseits der DDR eine Grenze mit einer gepunkteten Linie eingezeichnet, mit Gebieten, die wie zwei Finger nach Polen hineinragten, auf denen stand: "Zur Zeit unter polnischer Verwaltung". Daneben gab es ganz im Osten eine Gegend, die sah auf der Karte aus wie ein abgerissenes Ohr. "Ostpreußen" hieß das Ohr, unten stand es "unter polnischer Verwaltung" und oben "unter sowjetischer Verwaltung". Zwei größere Städte waren da eingezeichnet: Königsberg und Danzig.
Leider wurde in meiner Schulzeit das Thema der Ostgebiete so gut wie nie aufgegriffen, sodass ich erst viel später mehr über dieses Ohr auf der Landkarte erfahren habe. Ich erfuhr, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg durch sowjetischen Druck zwischen Polen und der Sowjetunion aufgeteilt worden war. Erst Jahre später habe ich mich auf Spurensuche begeben, um mehr über die Ostgebiete zu erfahren.
Heimatkunde im Deutschen Reich (1941)
Wie in NS-Schulbüchern über die Eroberungen im Osten und die dortigen Menschen gesprochen wurde
Heimatkunde im Deutschen Reich (1941)
Wie in NS-Schulbüchern über die Eroberungen im Osten und die dortigen Menschen gesprochen wurde
Im Jahr 1933 ging mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten die Gleichschaltung der Presse einher. Die Pressefreiheit wurde abgeschafft und die Medien in den Dienst des NS-Staates gestellt. Auch Schulbücher fielen der Nazi-Ideologie zum Opfer, so auch der renommierte Schulbuchverlag Diesterweg aus Frankfurt am Main (1941). Das Schulbuch strotzt vor „Heim-ins-Reich“-Parolen und der Verherrlichung des Hitler-Kults. So gab es ein „Adolf-Hitler-Koog“ und einen „Adolf-Hitler-Kanal“, genauso wie viele Schulen im ganzen Land den Namen des „Führers“ trugen. Über den Krieg standen da zum Beispiel folgende Sätze:
„Nach dem siegreichen Feldzug gegen Polen, nahte die Stunde der Befreiung der Volksdeutschen. Westpreußen und Posen kehrten als Reichsgau Danzig-Westpreußen „heim ins Rech“. (…)Im Herbst 1938 erlöste der Führer die Sudetendeutschen aus der Gewalt der Tschechen.
Im September des Jahres 1939 wurde auch Danzig wieder eine Stadt des Deutschen Reiches. Gotenhafen wurde zu einem deutschen Kriegshafen.
(…) Adolf Hitler hatte das Reich wieder groß und stark gemacht. Diesem neuen Deutschland gaben die Litauer freiwillig das Memelland zurück.
Nach dem siegreichen Feldzug gegen Polen im September 1939 kehrte nach zwanzigjähriger polnischer Fremdherrschaft Oberschlesien mit seinen bedeutenden Industriestädten, Posen und das „Wartheland“ mit Litzmannstadt, einem Zentrum der Webwarenindustrie, wieder heim ins Reich“.
Galerie: Briefmarken aus den Ostgebieten des Reiches
Galerie: Kleine Wappenkunde der Ostgebiete
Galerie: Geographische Reise in die Vergangenheit - Touristische Ziele gestern und heute